KIRSCHGARTEN ZU VERKAUFEN

nach Anton Tschechow, Theater ASPIK in Kooperation, mit der JO-Wiese Hildesheim, Theaterhaus Hildesheim, Greizer Theaterherbst, Miller’s Theater, Zürich, Premiere 2013

In der vierten Wiederaufnahme zu erleben vom 23. September bis 9. Oktober 2022!
gefördert vom Fonds Darstellende Künste

Regie: Uli Jäckle / Ausstattung: Elena Anatolevna / Sound: Roman Keller / Technik und Produktion: Gudrun Gadow / Leonid Andrejewitsch Gajew: Florian Brandhorst / Oliver Dressel: Ermolaj Aleksejevitsch Lopachin / Dunjasa: Irene Eichenberger / Ljubov Andrejewna Ranjewskaja: Luzia Schelling

aus: BAD IN DER LETHARGIESUPPE” – Theater ASPIK spielt Tschechows Kirschgarten als klitschnasses, tragikomisches Schauspielertheater

Kling! Die Sektgläser läuten, noch einmal stoßen Dunjasa und Lopachin mit Poolwasser an. Freudestrahlend schenken sie sich immer wieder nach, in einer Endlosschleife der zwangsamusierten Selbstvergewisserung. (…) Theater ASPIK hat sich Tschechows „Kirschgarten“ vorgenommen – diese Lethargie-Komödie über ein Gut im Russland der Zeitenwende. Regisseur Uli Jäckle macht mit seinem Team aus dem Stück ein triefendes Soziogramm. Schwimmbecken und Mädchenumkleide in der herbstverwaisten JOWiese werden zur Kulisse fur Schauspielertheater. Als verlorene Stellvertreter einer verlorenen Zeit waten, paddeln und schwimmen die vier Schauspieler durch ihre eigene, grün schimmernde Schicksalssuppe. Hochkomisches, formverliebtes Theater ist dabei herausgekommen, das eine der schwersten Herausforderungen meistert: die Tragik am Grund der Komik zu finden. Bei Tschechow vertreiben sich verarmte Adlige, deren letzte Stunde der Feudalgesellschaft geschlagen hat, die Zeit in dem Sinnbild ihres einstigen Daseins: Im Kirschgarten lustwandeln, erinnern und vergnügen sie sich. (…) Bei ASPIK sind alle – fast – bis zum Schluss auf Haltung aus, so eiskalt das Wasser auch sein mag. Unter dem beigefarbenen Ensemble, das die verschuldete Paris-Heimkehrerin Ranjewskaja trägt, sieht man den Neoprenanzug durchscheinen, der schneeweiße Hut sitzt auf dem wohlgelegten Haar. Luzia Schelling spielt diesen tragischen Realitätsflüchtling mit den letzten Atemzügen damenhafter Eleganz. Der Startblock symbolisiert das Kinderzimmer von einst, die Finger spreizt sie vom Zigarettenhalter ab. Selbst bei der Bootstour quer durchs Becken mit dem selbstgenügsamen Lopachin, den Oliver Dressel mit großmännischer Unternehmerschmierigkeit durchs Wasser gleiten lässt, wird noch fröhlich gekentert. Das Dienstmädchen Dunjasa, die größte Verliererin dieses elitären Clubs, kümmert sich beflissen um den schwimmenden Porzellanbestand und will ihre Felle mit einer verzweifelten Anmache an den Großverdiener sichern. (…) Man könnte denken, der Coup des Abends sei dieser fast schon zu schön ausgeleuchtete, nass schimmernde Bühnenraum. Doch: Tschechows Figuren sind in der Lesart von Theater ASPIK selbst allesamt Schauspieler. Mit dieser Aufgabe darstellerisch nicht baden zu gehen, ist der eigentlich größte Sieg, den es für diesen klitschnassen Kirschgarten zu verzeichnen gilt.
Stephanie Drees, Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 28.09.2013

 

Theater ASPIK verlegt das hoch verschuldete Landgut mit Kirschgarten, um dessen Verkauf sich Tschechows Komödie dreht, ins Freibad, wo nur die eine Frage zählt: Kannst du schwimmen oder gehst du baden? Wir begegnen den Figuren aus der versunkenen Welt des Kirschgartens, und entdecken, wie eng sie mit uns verwandt sind: Angesichts drängender Entscheidungen tauchen sie lieber ab und verstricken sich in emotionale Nöte, anstatt das Notwendige zu tun.
Mit KIRSCHGARTEN ZU VERKAUFEN hat Theater ASPIK einen Tschechow-Abend geschaffen, der die fatalen Folgen von Ignoranz und Untätigkeit vor Augen führt. Das Landgut der verarmten Feudalgesellschaft ist zum öffentlichen Freibad geworden, wo der „Kirschgarten“ buchstäblich baden geht. Nach dem Motto „Nach mir die Sintflut“ waten, schweben und sinken hier vier verloren gegangene Gestalten aus dem Theaterkanon durch den Sumpf ihrer Lethargie und ihrer (Rezeptions-)Geschichte. Und obwohl ihnen das Wasser bis zum Hals steht, klammern sie sich an ihren Privilegien fest und ignorieren die Fakten – bis es zu spät ist. Die Inszenierung arbeitet mit drei unterschiedlichen „Bühnen“: im 1.+3. Akt im Becken, im 2. Akt am Beckenrand in Comic-Ästhetik mit 2-D-Kostümen und Over-Voice, und im 4. Akt, der im Badehaus spielt, in einer zur Sauna umfunktionierten Garderobe, mit Aufgüssen für Spieler:innen (im Neoprenanzug) und Publikum.

Anton Pawlowitsch Tschechow hat fast vier Jahre lang an seiner gesellschaftskritischen Tragikomödie gearbeitet und hatte dafür eine klare Vision: „Das nächste Stück, das ich schreiben werde, wird unbedingt komisch, sehr komisch, zumindest im Plan.“ (Brief an Olga Kipper am 7. März 1901). Am 30. Januar 1904 wurde „Der Kirschgarten“ am Moskauer Künstlertheater dann endlich uraufgeführt. Der Autor, der am Tag der Premiere auch seinen 44. Geburtstag feierte, war mit der Inszenierung von Konstantin Stanislawskij allerdings gar nicht einverstanden: „Wie schrecklich! Ein Akt, der 12 Minuten Maximum dauern soll, dauert 40 Minuten. Ich kann nur das Eine sagen: Stanislavskij hat mein Stück ruiniert. Nun, Gott mit ihm.“ (Brief an Olga Kipper am 29.März 1904). Ein halbes Jahr nach der Uraufführung starb Tschechow an Tuberkulose.